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Dialog über den Kohlenstoffausgleich

Wenn wir erklären, dass arboRise die Wiederaufforstung finanzieren und die Familien, die sich für das Projekt engagieren, mit Kohlenstoffgutschriften entlohnen wird, sind die Reaktionen oft geteilt. Diese Finanzierungslösung hat keinen guten Ruf, obwohl sie die einzige nachhaltige Möglichkeit ist, die notwendigen Ressourcen für ein Projekt wie das unsere zu generieren.

Renat Heuberger, Gründer von South Pole, sagte am Ende der New York Climate Week: „Was mich in diesem Jahr wirklich traurig gemacht hat, war der Eindruck eines endlosen Streits unter den Umweltschützern. Beseitigen gegen Vermeiden. Technische Lösungen gegen naturbasierte Lösungen. Reduzierungen gegen Kompensationen. Staatlich motiviert gegen privat motiviert. Und alle die Kämpfe (vor allem unter weißen Männern) darum, wer den lokalen Gemeinden am besten hilft. Haben Sie jemals gesehen, wie sich fossile Brennstoffunternehmen gegenseitig auf diese Weise angreifen? Sie rauchen fette Zigarren, während wir uns gegenseitig bekämpfen.

Die Idee, einen Dialog über CO2-Ausgleich zu führen, entstand in einer herzlichen, aber recht intensiven Diskussion mit einer Nachbarin (die übrigens von unserem Projekt begeistert ist).

Die Nachbarin: Diese Unternehmen, die ihr Gewissen beruhigen, indem sie ihre CO2-Emissionen ausgleichen, finde ich ein bisschen einfach. Wer legt die Regeln eigentlich fest? Wer kontrolliert?

ArboRise: Ursprünglich wurde das Konzept der CO2-Gutschriften im Rahmen des Kyoto-Protokolls im Jahr 1997 erfunden. Die meisten Länder waren sich der Probleme der Entwaldung bewusst und wollten sie stoppen. Doch die betroffenen Länder (Brasilien, Indonesien etc. ) konnten leicht nachweisen, dass diese Entwaldung importiert war. Denn, grob gesagt: Wenn man die Wälder im Amazonasgebiet abholzt, dann um dort Kühe zu weiden, die Nordamerika mit Rindersteaks versorgen; wenn man die Wälder in Asien abholzt, dann um Soja anzubauen, das an die Schweine verfüttert wird, die in China konsumiert werden, oder um Palmöl für Nutella oder unseren Pizzateig herzustellen; und wenn man die Wälder in Afrika abholzt, dann um Kakao oder Kaffee herzustellen, der in Europa konsumiert wird (Quelle: Our World in Data – Deforestation). Die tropischen Länder sagten also: „Die Entwaldung wird von euch, den reichen Ländern, verursacht. Ohne diese Exporte können wir unsere Volkswirtschaften nicht entwickeln. Auch in euren Ländern habt ihr den Wald abgeholzt, um zu wachsen. Ihr könnt uns nicht verbieten zu wachsen. Wenn ihr wollt, dass wir die Abholzung stoppen, müsst ihr uns dafür entschädigen“. So wurden im Grunde die Emissionsgutschriften erfunden: ein Mechanismus, bei dem die Länder, die CO2 ausstoßen, die Erhaltung der Wälder in tropischen Ländern finanzieren.

Die Nachbarin: „Na gut, aber die Abholzung geht weiter…“.

ArboRise: Ja, in der Tat haben diese Mechanismen nicht sofort funktioniert. Die reichen Länder haben zwar Gesetze eingeführt, um große CO2-Emittenten (Unternehmen, die Zement, Stahl, Kohle usw. herstellen) zu zwingen, oberhalb einer bestimmten Emissionsobergrenze nach dem Verursacherprinzip eine Ausgleichszahlung zu leisten, indem sie CO2-Gutschriften kaufen. Die Idee ist genial: Denn auf diesen Märkten wird endlich ein Preis für eine bislang kostenlose Externalität (CO2-Emissionen) festgelegt, und diese neuen Kosten veranlassen alle, diese Ressource nicht mehr zu verschwenden. Leider haben diese Länder, um wettbewerbsfähig zu bleiben, zu hohe Obergrenzen und einen sehr niedrigen Preis pro Tonne CO2 festgelegt, was keinen Anreiz darstellte, und der Mechanismus hat lange Zeit nicht wirklich funktioniert. Interessant ist, dass neben diesem regulierten Kohlenstoffmarkt ein freiwilliger Kohlenstoffmarkt entstanden ist: Einige Unternehmen haben von sich aus begonnen, Umweltprojekte zu finanzieren, ohne dass sie von ihren Regierungen dazu gezwungen worden wären. Man muss sich klarmachen, was das bedeutet: Diese Unternehmen zahlen diese Kohlenstoffgutschriften freiwillig! Niemand zwingt sie dazu. Sie verzichten von sich aus auf Dividenden für ihre Aktionäre.

Die Nachbarin: Das ist das erste Mal, dass ich höre, dass die Unternehmen etwas Uneigennütziges tun!

ArboRise: Ja, das ist in der Tat ziemlich verrückt. Gut, gleichzeitig ist es nicht so uneigennützig wie es scheint! Wenn die Migros ihr „Kulturprozent“ hat, dann deshalb, weil es ihr Image verbessert. Und diese Frage des Images ist für viele Unternehmen von zentraler Bedeutung. Natürlich hat dies zu einer Art Überbietungswettbewerb und zu Missbrauch geführt: Einige Unternehmen gaben vor, etwas für das Klima zu tun, obwohl ihre Aktionen keine oder nur negative Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung hatten. Man begann, von Greenwashing zu sprechen. Und hier spielt der Wettbewerb eine interessante Rolle: Da große Marken, z. B. im Luxusbereich, es sich nicht leisten können, des Greenwashing beschuldigt zu werden, begannen sie, beweisen zu wollen, dass ihre Projekte tatsächlich positive ökologische und soziale Auswirkungen hatten, um sich von den schwarzen Schafen zu unterscheiden. Zu diesem Zeitpunkt entstanden die ersten Labels und Zertifizierungsstandards (z. B. die Livelihood Funds, die sehr hohe Anforderungen an die Nachhaltigkeit stellen und die von großen Luxusunternehmen finanziert werden).

Die Nachbarin: Ja, aber diese Labels sind wieder nur Augenwischerei. In Wirklichkeit kaufen die Unternehmen Labels, um tugendhaft zu erscheinen!

ArboRise: Wie in vielen Bereichen gibt es Labels, die nichts taugen, und Labels, die sehr anspruchsvoll sind. Man muss auch daran erinnern, dass es die NGOs waren, die als erste das Greenwashing der Unternehmen kritisiert haben. Da es ein wenig einfach ist, zu kritisieren, ohne Lösungen zu liefern, haben große, verantwortungsvolle NGOs beschlossen, selbst verbindliche Labels einzuführen. Beispielsweise haben der WWF und 40 andere internationale NGOs das Gold Standard Label geschaffen, das auch arboRise anwendet. Zu Beginn umfassten diese Zertifizierungsstandards nur Umweltaspekte. Dann wurden die Anforderungen zunehmend um soziale Aspekte erweitert: Schutz der Arbeitnehmer, Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau, Erhaltung der Artenvielfalt, UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung usw. Und alle Qualitätsstandards erfordern eine umfassende Konsultation der Interessengruppen.

Die Nachbarin: Das ist ja alles schön und gut, aber es muss immer einen Weg geben, die Regeln zu umgehen oder diese Standards zu korrumpieren.

ArboRise: Betrügen wird immer komplizierter. Denn mittlerweile sind die Regeln der Standards (Gold Standard, VERRA, Plan Vivo usw.) extrem komplex und anspruchsvoll geworden. Für eine kleine NGO wie arboRise ist es unmöglich, eine Zertifizierung zu erhalten, ohne die Hilfe von Spezialisten, die diese Anforderungen im Detail kennen. Der Naturschutz und die Reduktion von CO2-Emissionen ist zu einem richtigen Beruf geworden, mit Ausbildungsgängen (z.B. als Ingenieur in Umweltwissenschaften an der EPFL) und Firmen, die Unternehmen bei der Reduktion ihrer Emissionen beraten, oder NGOs wie arboRise bei der Schaffung von Projekten, die die Standards einhalten. In der Schweiz haben wir das Glück, mit South Pole die führende Beratungsfirma zu haben, die alle Fachbereiche abdeckt: von der Erstellung von CO2-Bilanzen bis hin zur Festlegung von Strategien zur Reduzierung und zum CO2-Beitrag. Und um auf deine Frage zurückzukommen: Es sind nicht mehr die Standards, die die Projekte auditieren: Es sind andere, vom Standard zugelassene, aber unabhängige Akteure, die auf die Überprüfung der Anwendung von Standards spezialisiert sind. Du wirst mir sagen, dass sie korrupt sein können, aber es ist ihr Job, unparteiische Beweise zu liefern. Sie tun alles, um Korruption zu verhindern, sonst können sie den Laden dichtmachen.

Die Nachbarin: Jetzt wird es langam kompliziert! Trotz allem sind all diese Unternehmen trotzdem gewinnorientiert und damit anfällig für Missbrauch.

ArboRise: Aber Profit ist nicht „schmutzig“! Es ist diese Motivation, die das Entstehen von freiwilligen Märkten, anspruchsvollen Standards, die Ausbildung von Klima- und Umweltexperten, den Einfluss auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung usw. ermöglicht hat. Diese Fixierung auf den Profit ist etwas abwegig! Ich erinnere dich daran, dass die Lösungen, die die Staaten zur Zeit des Kyoto-Protokolls eingeführt haben, nicht funktioniert haben. Das haben wir bei den regulierten Kohlenstoffmärkten gesehen. Außerdem ist es viel einfacher, einen Beamten oder Politiker zu bestechen, als Regeln in einem transparenten Markt zu umgehen. Denn mit dem System der freiwilligen Gutschriften ist alles transparent: Alle Projekte werden veröffentlicht und jeder kann hingehen und es vor Ort überprüfen.

Die Nachbarin: Das ist also der Grund, warum man all diese negativen Artikel in den Zeitungen liest?

ArboRise: Ja, in gewissem Sinne ist das die Folge von Transparenz. Und das ist auch gut so: Es spornt alle Akteure an, sich ständig zu verbessern. Es gibt auch einen starken Wettbewerb zwischen all diesen Akteuren: Jeder will beweisen, dass er die nachhaltigsten Projekte, die robustesten Methoden und die größte Wirkung hat. Und dann gibt es seit einigen Jahren noch den Beitrag des IPCC, der unbestrittene wissenschaftliche Ergebnisse liefert, auf die sich alle Akteure stützen können. Der Kampf gegen die globale Erwärmung erfordert sehr hohe Fachkenntnisse. Und man muss sehen: Viele Zeitungen verfügen leider nicht über dieses Wissen und es vorziehen, zu vereinfachen und zu polarisieren, um ihre Auflage zu steigern.

Nachbarin: Du kannst mir doch nicht erzählen, dass The Guardian nicht über das nötige Fachwissen verfügt!

ArboRise: Du meinst wahrscheinlich den Artikel, der die Emissionsgutschriften angriff, die zur Bekämpfung der Entwaldung eingesetzt werden?

Nachbarin: Ja, dieser Artikel, der die Ergebnisse von Wissenschaftlern beschrieb, bestätigte alle meine Zweifel.

ArboRise: Dann lass uns darüber reden! Die Wissenschaftler (Source Material), über deren Arbeit der Guardian berichtet hat, haben nur die Emissionsgutschriften analysiert, die durch die Verhinderung der Entwaldung generiert werden, REDD+ im Fachjargon, die Abkürzung für „Reduktion der Emissionen aus Entwaldung und Waldschädigung“. Alle anderen Projekte, die Kohlenstoffgutschriften generieren (Wiederaufforstung, erneuerbare Energien, Energieeffizienz usw.), waren also nicht betroffen. Leider sprechen die Schlagzeilen in den Zeitungen von „den Kohlenstoffgutschriften“ und werfen damit Zweifel an allen Projekten auf.

Die Nachbarin: Ja, das stimmt, das stiftet Verwirrung. Aber kommen wir zum Kern der Sache: Source Material verglich die Gebiete, die durch die Projekte vor der Abholzung geschützt wurden, mit dem, was daneben in den nicht geschützten Gebieten passierte. Sie stellten fest, dass „nebenan“ weniger abgeholzt wurde, als die Projekte behaupteten, und dass die Projekte daher ihre positiven Auswirkungen überschätzt hatten.

ArboRise: In der Tat besteht die ganze Herausforderung darin, den Unterschied zwischen der Wirkung des Projekts (weniger Entwaldung) und dem, was passiert wäre, wenn das Projekt nicht stattgefunden hätte, zu messen. Dazu muss man beobachten, was in der Nähe des Projekts passiert. Aber was ist „in der Nähe“? Man weiß nicht genau, wie Source Material diese „nahegelegenen“, nicht geschützten Gebiete ausgewählt hat. Eigentlich wissen wir das: Source Material hat diese Gebiete willkürlich und ohne Methodik. Wenn es sich bei der „Umgebung“, die du wählst, zum Beispiel um heilige Wälder handelt, ist es klar, dass du dort keine Abholzung siehst! Oder wenn du die Abholzung an Orten misst, an denen es keinen anthropogenen Druck gibt, wirst du auch keine Abholzung sehen. Das bedeutet aber nicht, dass es dort, wo die Projekte angesiedelt sind, keine Entwaldung gegeben hätte. Übrigens haben andere Wissenschaftler nach dem Guardian-Artikel die gleichen Messungen an anderen Orten, näher an den Projekten, durchgeführt und hohe Entwaldungsraten festgestellt… , aber der Guardian hütet sich davor, dies zu veröffentlichen.

Die Nachbarin: Na gut, geben wir es zu. Dann handelt es sich um eine Frage der Methodik?

ArboRise: Ja, in der Tat versucht man bei Projekten gegen die Entwaldung zu messen, was im Projektgebiet passiert wäre, wenn das Projekt nicht stattgefunden hätte. Und das ist sehr schwierig. Was wäre passiert, wenn wir die Dampfmaschine nicht erfunden hätten? Was wäre passiert, wenn man 100 Jahre später Amerika entdeckt hätte? In diesen Projekten laufen die Methoden zur Berechnung der Baseline ein wenig darauf hinaus, eine fiktive Geschichte zu schreiben.

Die Nachbarin: Ja, aber sollten nicht glaubwürdige Methodologien vorgeschrieben werden?

ArboRise: Zunächst muss man den Forscherinnen und Forschern Zeit geben, diese zu schaffen. Es ist viel zu früh, um zu regulieren. Außerdem, unter uns gesagt, wäre ich misstrauisch, wenn der Staat solche Methodologien aufzwingen würde. Es könnte für einige Regierungen sehr verlockend sein, den Wissenschaftlern vorzuschreiben, wie sie die Geschichte umschreiben sollen, denn darum geht es ja. Aber lass mich noch einmal auf die Schlussfolgerungen dieser Gruppe von Wissenschaftlern des Guardian zurückkommen. Stellen wir uns vor, sie hätten Recht gehabt und es gäbe weniger Entwaldung in Gebieten, die an Projekte zur Bekämpfung der Entwaldung angrenzen. Dann hätten sie auf diese Weise vielleicht bewiesen, dass die Entwaldungsbekämpfungsmaßnahmen der Projekte einen positiven Effekt haben, auch auf die angrenzenden Gebiete! Du siehst, man kann diese Ergebnisse auch in eine sehr positive Richtung drehen. Aber die Medien bevorzugen die Polarisierung.

Die Nachbarin: Ja, das stimmt, und es stimmt, was du sagst: Es ist möglich, dass diese Projekte positive Auswirkungen außerhalb ihres Tätigkeitsbereichs haben, daran habe ich nicht gedacht. Ich möchte nur noch verstehen, was passiert, wenn man feststellt, dass ein Projekt gelogen hat. Wen muss es dann entschädigen?

ArboRise: Achtung, ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Projekte zur Bekämpfung der globalen Erwärmung keine bösen Absichten hat, ja sogar alle Projekte. Aber nehmen wir einmal an, ein Projekt hat seine Auswirkungen überschätzt und der Zertifizierungsstandard hat es nicht gesehen. Die erste Folge ist, dass die Unternehmen, die die Emissionsgutschriften gekauft haben, zu viel dafür bezahlt haben. Wenn sie z.B. 100’000.- für 10’000 Tonnen nicht emittiertes CO2 bezahlt haben, obwohl vielleicht nur 1’000 Tonnen wirklich nicht emittiert wurden, dann haben diese Unternehmen 100.- pro Tonne CO2 bezahlt und nicht 10.-. Diese Unternehmen könnten vielleicht eine Rückerstattung verlangen. Und der Zertifizierungsstandard wird eine drastische Überarbeitung des Projekts erfordern. Mit dem Risiko, dass das Projekt seine Zertifizierung verliert.

Die Nachbarin: Ich verstehe. Also haben die Projekte wirklich kein Interesse daran, zu schummeln. Aber, ehrlich gesagt, glaubst du an diese REDD+-Projekte (Kampf gegen die Entwaldung)?

ArboRise: Bevor ich deine Frage beantworte, möchte ich noch einmal auf die Projekte eingehen, die angeblich „schummeln“. Zum einen ist es ein schlechter Stil, sie der Lüge zu bezichtigen, und zum anderen würde ich mir wünschen, dass mehr über all die Unternehmen gesprochen wird, die nichts tun und sich daher nicht der Kritik aussetzen. Um diese sollten sich die NGOs und die Medien kümmern! Nun zu deiner Frage: Meine Überzeugung, die auch vom IPCC geteilt wird, ist, dass es zwei Dinge braucht: Erstens muss der CO2-Ausstoß reduziert werden und zweitens muss das überschüssige CO2 aus der Atmosphäre entfernt werden. Also sind alle Projekte, die dazu dienen, Emissionen aus fossilen Energieträgern zu vermeiden, gut: Projekte für verbesserte Herde, den Bau von Windkraftanlagen, die Förderung von Photovoltaik, Biogas etc. Und alle Projekte, die der natürlichen Kohlenstoffabsorption dienen (Wiederaufforstung, regenerative Landwirtschaft, Wiederherstellung von Mangrovenwäldern usw.) sind noch besser, weil sie Ökosystemdienstleistungen erzeugen und die Biodiversität stärken. Was die Projekte zur Bekämpfung der Entwaldung angeht, bin ich zwiegespalten: Reife Wälder sind zwar Kohlenstoffsenken, aber sie nehmen pro Hektar viel weniger CO2 auf als junge Wälder. Man braucht also riesige Flächen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen, und diese sehr großen Flächen sind schwer zu kontrollieren. Und, wie wir gesehen haben, ist es schwierig, die Baseline zu messen. Interessant ist, dass der Markt meine Meinung teilt: Emissionsgutschriften aus Wiederaufforstungsprojekten haben die höchsten Preise, während der Markt andere Arten von Projekten weniger bewertet.

Die Nachbarin: Apropos Preise: Immer wieder liest man, dass die Kohlenstoffpreise zu niedrig sind. Wie erklärst du das?

ArboRise: Es gibt zwei Faktoren, die die Preise beeinflussen. Der erste ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Es gibt immer noch zu wenige Unternehmen, die Emissionsgutschriften kaufen – freiwillig oder weil sie durch Gesetze dazu gezwungen werden – im Vergleich zum Angebot an Emissionsgutschriften von Projekten wie arboRise. Aber die Gesetze ändern sich und der Druck auf die Unternehmen steigt. Die Nachfrage wird steigen, was die Kohlenstoffpreise nach oben treiben wird. Und das ist der zweite Faktor: Je mehr Unternehmen einen hohen Kohlenstoffpreis in der Zukunft erwarten, desto mehr Gutschriften werden sie im Voraus kaufen, was die Preise heute erhöhen wird, was wiederum gut für Projekte wie arboRise ist. Das ist das Problem von Artikeln wie dem im Guardian: Je mehr man die Kohlenstoffmärkte angreift, desto weniger glauben die Unternehmen, dass sie eines Tages gezwungen sein werden, teure Gutschriften zu kaufen, und deshalb kaufen sie heute weniger davon. Hier können die Staaten eine Rolle spielen: Sie sollten verbindliche Gesetze einführen und die Unternehmen zwingen, ihre Emissionen zu messen, sie zu reduzieren und die verbleibenden Emissionen auszugleichen.

Die Nachbarin: Wenn ich das richtig verstehe, ist es für Unternehmen umso vorteilhafter, je niedriger die Kohlenstoffpreise sind, wenn sie ihre Emissionen nur ausgleichen und nicht versuchen, sie zu reduzieren.

ArboRise: Ja, du hast es auf den Punkt gebracht. Deshalb setze ich mich für Kohlenstoffgutschriften ein: Je mehr Unternehmen hohe Preise erwarten, desto teurer wird der Kohlenstoffausgleich für sie und desto mehr wird es sie dazu bringen, eher in die Reduzierung ihrer Emissionen als in den Ausgleich zu investieren.

Nachbarin: Ja, derzeit ist der CO2-Ausgleich für die Unternehmen ein bisschen wie ein Faulkissen.

ArboRise: Ich finde, es ist auch ein faules Kissen, immer die Unternehmen zu beschuldigen. Nehmen wir als Beispiel ein Unternehmen, das ich gut kenne: Swisscom. Ich habe ihre CO2-Bilanz im Nachhaltigkeitsbericht detailliert analysiert. Klar ist, dass Swisscom seinen CO2-Fußabdruck bereits stark reduziert hat. Ihr verbleibender CO2-Fußabdruck besteht zu 70 % aus dem Kauf von Smartphones von Apple, Samsung usw. Warum? Weil die Verbraucher weiterhin darauf bestehen, ihre Smartphones – wie ihre Autos, ihre Kleidung etc. – viel häufiger als nötig. Und die Verbraucher sind wir.

Die Nachbarin: Ja, und deshalb bringen einige Unternehmen „klimaneutrale“ Produkte auf den Markt, die den Verbrauchern ein gutes Gewissen einreden…

ArboRise: In der Tat, die Verbraucher müssen Verantwortung übernehmen und überprüfen, ob die Kompensationsprojekte nach einem anspruchsvollen Standard zertifiziert sind. Ich bevorzuge es, wenn Unternehmen zugeben, dass sie nicht alle ihre Emissionen sofort reduzieren können und gute Projekte finanzieren. Ich halte nichts von Anti-Ökowäsche-Regulierungen. Wenn man den Unternehmen verbietet, solche Produkte auf den Markt zu bringen, führt das lediglich zu Green Hushing: Sie werden aufhören zu kommunizieren und wir verlieren an Transparenz.

Die Nachbarin: Nun, ich weiß nicht, ob du mich überzeugt hast, ich bleibe misstrauisch. Ich glaube einfach nicht, dass Profitstreben mit Nachhaltigkeit vereinbar ist.

ArboRise: Es steht dir frei, misstrauisch zu sein, aber du musst dir bewusst machen, dass dieses Misstrauen, das von den Medien geschürt wird, enorme Kosten verursacht:

  • Erstens verleitet es die Standards dazu, immer komplexere und starrere Regeln zu machen, um sich gegen jegliche Medienkritik zu wappnen. Und das wird diskriminierend für alle innovativen Projekte, die nicht in den Rahmen passen.
  • Zweitens erfordern diese immer komplizierteren Regeln die Unterstützung von Experten, die in Ländern mit hohem Einkommen ausgebildet werden. Dies diskriminiert die Länder des Globalen Südens, die weder über die Fähigkeiten noch über das Budget verfügen, um sich diese Gehälter leisten zu können. Und die Länder des Globalen Südens bleiben so von den Ländern des Nordens abhängig.
  • Drittens verleitet es die Standards dazu, viele Rücklagen einzuführen, um sich gegen alle Risiken zu versichern.

Wusstest du, dass etwa 50% der Kohlenstoffeinnahmen eines Projekts dazu verwendet werden, die Versicherungen der Standards und die hochqualifizierten Fähigkeiten der Experten zu finanzieren? All dieses Geld bleibt in den reichen Ländern, obwohl es im globalen Süden besser aufgehoben wäre. Und das ist eine direkte Folge des Misstrauens und der Risikoaversion unserer Gesellschaften. In einer Welt des gegenseitigen Vertrauens wären diese Vermittler überflüssig und ein Unternehmen könnte eine Kompensations-/Beitragsvereinbarung direkt mit einem Projekt abschließen und die beiden Partner würden sich den Anteil der Standards und Berater teilen, was den lokalen Gemeinschaften zugute käme (nebenbei gemerkt: genau das macht die ELEKTRON AG mit arboRise). Also, liebe Nachbarin, bleibe misstrauisch, wenn du willst, aber sei dir der Konsequenzen bewusst: Es sind die Menschen in den Ländern des Südens, die letztendlich den Preis für dein Misstrauen zahlen müssen! Und sie sind es auch, die uns auffordern, unser Misstrauen zu begrenzen: https://www.fscindigenousfoundation.org/global-south-voices-in-support-of-redd/ 

Die Nachbarin: ja, ich gebe es zu, wahrscheinlich ist etwas Wahres dran an dem, was du sagst. Nehmen wir an, dass alle Akteure mitspielen und wir ihnen vertrauen können. Haben die Regierungen dann keine Rolle mehr zu spielen?

ArboRise: Ganz im Gegenteil! Aber es muss effektiv reguliert werden. Zum Beispiel halte ich die EU-Regelung zu Produkten aus Entwaldung für sinnvoll. Dadurch wird z. B. Nestlé gezwungen, die Entwaldung aufgrund der mangelnden Rückverfolgbarkeit von Kakao zu reduzieren.

Die Nachbarin: Ja, in der Tat, Nestlé hat gerade angekündigt, dass sie den CO2-Ausgleich aufgeben. Aber ist das nicht eine schlechte Nachricht für arboRise?

ArboRise: Es ist immer besser, die durch Entwaldung verursachten CO2-Emissionen zu reduzieren, als sie zu kompensieren. Konkret ist unser Projekt nicht betroffen, weil die Cashewnuss, die in Guinea angebaut wird, derzeit (noch) nicht in diesen Produkten enthalten ist. Wäre sie enthalten, wäre das positiv für unser Projekt, denn es würde die lokalen Bauern davon abhalten, „unsere“ Bäume durch Cashew-Plantagen zu ersetzen. Eine weitere gute Regulierung ist die CO2-Steuer der EU, die exportiertes CO2 bestraft: Unternehmen, die ihren Standort verlagern, nur um anderswo die Umwelt verschmutzen zu können und so ihre Produktionskosten zu senken, können dies nicht mehr tun, ohne eine Steuer zu zahlen. Das wird die CO2-Preise verteuern und die Unternehmen zwingen, ihre Produktionsketten zu überdenken.

Die Nachbarin: Letztendlich ist das alles noch sehr beweglich und unsicher. Was wird deiner Meinung nach langfristig passieren?

ArboRise: All die negativen Artikel über die Kohlenstoffmärkte werden dazu beitragen, die Anforderungen zu erhöhen und robuste Methoden zu erfinden. Das wird seinen Preis haben: Die Projekte werden teurer und die Kohlenstoffpreise werden auch deswegen steigen (das ist übrigens auch auf dem Markt zu beobachten: Die Preise für Kohlenstoffgutschriften aus neueren Projekten sind höher als die Preise für Projekte, die mit „alten“ Methoden durchgeführt werden). In keinem Fall werden die Kohlenstoffmärkte verschwinden. Ich glaube auch, dass man nach und nach die CO2-Emissionen aus fossilen Energieträgern dank der Reduktionsbemühungen der Unternehmen und kluger Regulierungen reduzieren wird, in der Hoffnung, dass sich auch die Verbraucher anstrengen werden. Auf sehr lange Sicht wird die Konsequenz sein, dass es immer weniger Geld für Projekte zur Emissionsreduktion (REDD+, Solarenergie, Energieeffizienz, etc.) geben wird. Andererseits wird es immer notwendig sein, die Gigatonnen an überschüssigem CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, um die globale Erwärmung zu verringern und unsere zunehmend überhitzten Regionen zu „klimatisieren“ (ohne Klimaanlagen!). Doch nur naturbasierte Lösungen, insbesondere das Anpflanzen von Bäumen, können dies heutzutage leisten. Es wird immer eine Zukunft für das Pflanzen von Bäumen geben, da sie die Atmosphäre entkohlen.

Die Nachbarin: Das ist eine gute Nachricht und ich werde sie immer unterstützen. Aber ich bin skeptisch gegenüber diesen neuen Ablassbriefen, die die Emissionsgutschriften darstellen. Im Mittelalter konnten Sünder durch den Kauf von Ablassbriefen erreichen, dass sich der Klerus bei Gott für sie einsetzte, um ihnen den Gang ins Fegefeuer zu ersparen. Es delegierte die Sühne für Sünden. Ein bisschen wie der CO2-Ausgleich.

ArboRise: Ah, dieses Argument hast du dir bis zum Schluss aufgehoben! Ich erinnere dich daran, dass es Ablässe gab, weil man anfing, den Leuten Angst vor dem Fegefeuer zu machen. Die Menschen gingen nicht mehr zur Beichte, um ihre Sünde zu bereuen, sondern aus Angst vor einer Bestrafung nach dem Tod. Auch heute wird den Menschen Angst gemacht. Neue Lutheraner behaupten, dass die ökologischen Sünden durch Schmerzen abgebüßt werden müssen. Man muss leiden, und wenn möglich sollen die Reichen leiden. Es ist, als würde man sich einen einfachen ökologischen Übergang verbieten. Ich bin davon überzeugt, dass der Übergang reibungslos verlaufen muss, damit die gesamte Bevölkerung den Wandel akzeptiert. Die Einführung von Maßnahmen zur CO2-Kompensation ist eine Möglichkeit, diesen Übergang zu erleichtern. Ich erinnere dich daran, dass die Abschaffung des Ablasshandels zu Religionskriegen geführt hat. Also, ja, der CO2-Ausgleich ist eine Form des Ablasses, aber er ist nützlich für einen sanften Übergang.

Die Nachbarin: Gut, wir haben uns gut unterhalten. Es war wirklich interessant und ich habe viel gelernt. Was machen wir jetzt?

ArboRise: Das ist ganz einfach, lass uns einen Baum pflanzen!

Dialogue sur la compensation carbone